Es führt ein Weg ins Nirgendwo |
Donnerstag, 6. Januar 2005
Meine erste Liebe
lastexit, 01:41h
Tanja. Wenn meine Mutter den Namen Tanja hört, fängt sie gleich an zu lamentieren: "Es war wie ein Schock für mich als ich Tanja zum ersten Mal sah. Sie war das hässlichste Mädchen, das ich jemals gesehen habe. Kurze fransige Haare, schlampige Klamotten, pummelig und ein Auge war zugeklebt (weil sie gerade eine Augenoperation hinter sich hatte). Und mein Sohn hat jeden Tag so von ihr geschwärmt!"
Ich lernte Tanja im Kindergarten kennen. Wir verstanden uns immer gut. Mit uns wollte kaum jemand spielen. Ich flennte wegen jedem Dreck und Tanja biss ohne Grund um sich in die Arme und Waden anderer Kinder. Mich ließ sie aber immer in Ruhe. Und zum spielen brauchten wir niemand anderes. Wir hatten ja uns. Ich war froh, dass ich Tanja hatte, bot sie mir doch mit ihrem Gebiss immer Schutz vor anderen garstigen Jungs. Ich fühlte mich sicher an ihrer Seite. Und Tanja war froh, dass sie mich hatte, war ich doch ein gerne genommener williger Barbiepuppenersatz: Ich wurde gekämmt, geschminkt und in Klamotten gesteckt, die Tanja in dem Kleiderschrank von Opa und Oma gefunden hat. Wir hatten jede Menge Spaß. Der Argwohn meiner Mutter gegenüber Tanja wich, als sich unsere Mütter kennenlernten. Sie wurden Freunde. Beide waren sie alleinerziehend. Das schmiedet zusammen. Fortan verbrachten Tanja und ich nicht nur im Kindergarten die Zeit miteinander, sondern auch noch gelegentlich abends, aber vor allem am Wochenende. Wochenends machten wir meist Ausflüge. Meist waren noch irgendwelche Liebhaber unserer Mütter dabei, die unbedingt auf Family machen wollten. Für uns war das klasse. Endlich hatten wir auch eine Familie, die nicht nur aus Mutter und Kind bestand. Wir wurden irgendwann eingeschult. Die Grundschulzeit verbrachten wir auch zusammen, obwohl sich plötzlich unser Freundeskreis erweiterte: Ich wurde selbstbewusster und Tanja hatte keine Lust mehr zum beißen. Wir verbrachten immer noch viel Zeit miteinander. Ich erinnere mich noch an jenem Nachmittag, Tanja und ich waren beide 10, da holte mich Tanja von zu Hause ab. Wir fuhren Fahrrad. Tanja lotste mich geradewegs in die einzige Tiefgarage unseres Stadtteils, weil sie mir was zeigen müsste. In der hintersten Ecke der Tiefgarage lag eine zerfledderte "Praline". Tanja meinte, ich solle sie lesen. Ich war zwar neugierig, fand aber die nackten Mädels nicht sonderlich interessant. Tanja fragte mich, ob mich das denn nicht scharf machte. Ich wusste nicht, was sie meinte. Da gab mir Tanja einen Kuss. Das wiederum fand ich aufregend. Als Tanja mir die Zunge in den Mund steckte, empfand ich das allerdings als ziemlich unangenehm, also wich ich aus. Tanja ließ nicht locker. Sie zerrte an meinem T-Shirt, warf mich auf den Boden und hockte dann auf mir. Ich wusste nicht was sie wollte. Ich wollte nur noch weg. Ich war zwar seitdem ich die Videosammlung meines Vaters durchsucht hatte aufgeklärt, aber mit zehn war ich leider noch nicht soweit, dass ich mich mit Sex auseinandersetzen musste, hatte ich doch bis dahin noch keine einzige Erektion. Tanja zerrte immer noch an mir herum. Als sie versuchte mir die Hose auszuziehen, schlug ich um mich und konnte mich ihren Fängen entreißen. Das war das einzige und auch letzte Mal, dass sich Tanja an mir vergriff. Fortan war wieder alles beim alten. Als wir aufs Gymnasium kamen, trennten sich unsere Wege rasch. Tanja fand mehr gefallen an Jungs, die fünf bis zehn Jahre älter waren als wir, als an der Schule. Sie war kaum noch im Unterricht. Ich sah sie oft vom Klassenzimmerfenster aus wie sie bei den Jungs vor der Schule hockte und Bier trank. Ich wäre gerne dabei gewesen, weil ich auch cool sein wollte. Meine strenge Erziehung ließ das allerdings nicht zu. Tanja flog irgendwann von der Schule. Wenn wir uns begegneten, tat sie immer so als würde sie mich nicht kennen und schaute demonstrativ weg. Ich war ein Spießer in ihren Augen und irgendwie war ich das auch. Ich hatte Verständnis für ihr Verhalten. Aber oft sahen wir uns eh nicht mehr und das obwohl wir in einer Kleinstadt aufgewachsen sind. Die Jahre vergingen. Ich stand kurz vor dem Abitur. In unserer Kleinstadt fanden im Abstand von zirka zwei Monaten Discoveranstaltungen statt. Wenn ich Disco sage, dann hatte diese Veranstaltung recht wenig mit einer Diskothek zu tun, die man landläufig kennt. Die Veranstaltung war in einer alten Turnhalle. Die meisten kamen hin, weil der Alk billig war. Andere auch noch um sich bei Schlägereien oder Heavy Metal abzureagieren. Es war immer gerammelt voll. Durch die Luft flogen Bierflaschen, am Boden lagen die Alkleichen, geprügelt wurde in jeder Ecke, die Luft war schneidend und mit Schweiß getränkt und aus den Lautsprechern dröhnten Heavy-Metal-Klänge. Aber jeder war da. Ein Pflichttermin. Sonst wurde einem in der Provinz ja nichts geboten. Die Generation Golf Sektion schwäbische Rostbeulen war hier in Partylaune. An einem dieser Abende als ich 19 war stand also Tanja plötzlich vor mir. Etwas verwundert musste ich sie wohl angeschaut haben, da sie mich jahrelang gemieden hat. Es folgte ein kurzes Hallo-Wie-geht’s-Was-Machste-Dann-noch-viel-Spaß-Smalltalk. An jenem Abend sah ich Tanja noch einmal, wie sie auf etwas eintrat, das vor ihren Füßen am Boden lag. Als ich näher hinging sah ich die Schulze am Boden liegen, in deren Magen sich Tanjas Schuhe bohrten. Schulze – das Mädchen war drogenabhängig. Nun war es nichts außergewöhnliches, dass die Jugendlichen in unserer Stadt an der Nadel hingen. Die einen hingen an der Nadel und die anderen an der Flasche, so wie ich und meine Kumpels. Jeder versuchte halt auf seine Weise dem langweiligen Provinz-Alltagsleben zu entfliehen. Schulze war jedoch anders als alle anderen. Sie rasierte sich den Kopf, trug immer ein weißes Hochzeitkleid und ging Sommer wie Winter barfüßig durch die Straßen. Andersartigkeit wird in der Provinz nicht toleriert. Also musste Schulze leiden. Tanja war wohl an jenem Abend an der Reihe, um der Schulze zu zeigen, dass sie nicht ins Stadtbild passte. Niemand schritt ein. Soetwas hätte zu leicht zu einer Massenprügelei ausarten können. Irgendwann hatte Tanja keine Lust mehr zum Treten und ging weg. Die Schulze stand auf und tanzte weiter. Sie war hart im nehmen. An jenem Tag sah ich Tanja zum letzten Mal. Nach dem Abi bin ich auch gleich weggezogen, hatte also auch keine Gelegenheit mehr dazu. Tanja ist vor jetzt fünf Jahren gestorben – an einer Überdosis Heroin. Sie hat ein immer hübsch geschmücktes Urnengrab, direkt neben meiner Großmutter und eine Reihe vor ihrem letzten Freund, der ebenfalls an einer Überdosis verendet ist. |
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Letzte Aktualisierung: 2005.03.19, 15:26 Status
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Ach Frau Eva, machen Sie eigentlich jede Nacht durch?... by lastexit (2005.03.11, 00:22) |